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Die Welt ist voller Lösungen

FOKUS: KULTUR DES LERNENS // BEITRAG VON MIRIAM HUWILER

 

Zwei Wochen und 12 Lektionen hatte ich Zeit, um mit meiner Herbstberufsmatura-Klasse (13 Studierende) über die Zukunft unserer Wirtschaft und Gesellschaft nachzudenken. 

 

Wir widmeten uns der Frage nach einer lebenswerten Zukunft. Dabei blickten wir mit einem wachen Auge auf die sechs Systeme Politik, Recht, Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie und Ökologie und versuchten diese neu zu denken. 

Ausgehend von den persönlichen Bedürfnissen nahmen wir uns vor, das Fundament für eine Vision menschlichen Zusammenlebens zu bauen.

Meine Studierenden liessen sich auf mein Projekt ein. Anhand des metazyklischen Reflexionsmodells, welches ich gerade erst entwickelt hatte, wagten sie sich an die Fragen nach ihren Bedürfnissen und ihren Werten.

Metazyklisches Reflexionsmodell © 2021 by Miriam Huwiler is licensed under CC BY 4.0
Metazyklisches Reflexionsmodell © 2021 by Miriam Huwiler is licensed under CC BY 4.0

 

Die Frage "Welche Werte sind dir wichtig?" teilten wir mit meinem Schulhaus- und LinkedIn-Netzwerk. Wir erhielten spannende Inputs und Gedanken, die uns zum Weiterdenken anregten. 

Für die Studierenden war es eine wichtige Erfahrung, dass ihre Fragen ernst genommen wurden. Sie erlebten, dass da Menschen sind, die sich die Zeit nehmen mitzudenken und ihren Fragen nachzuspüren. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an alle Mitdenkenden!

 

Unsere Wertediskussion ging tief. Wir sassen in einem Klassenzimmer um drei Pulte im Kreis herum und hörten einander zu. Mit den Werten kamen auch die Ängste. Meine Studierenden stellten Fragen nach der Chancengleichheit, nach der Meinungsfreiheit, nach den Menschen-rechten. Wenn wir menschlich sein wollen, brüderlich, ehrlich: Geht es dann, dass jemandem der Zugang zu Bildung verwehrt bleibt? In der Schweiz hat grundsätzlich jeder Mensch Zugang zu Bildung. Es gibt aber auch hier Hürden. Nebst gesellschaftlichen Hürden sehen wir auch familiäre und sogar persönliche Hürden. Wie häufig hinderst du dich selbst, weil du denkst: "Das kann ich nicht." Wie häufig stehen wir uns selbst im Weg, weil wir Angst haben? 

Zugegeben: Es fiel mir schwer nur da zu sein und zuzuhören. Ich hätte so viel zu sagen gehabt! Aber das Ziel des Projektes war, dass die Studierenden durch Kontemplation selbst ihre Antworten auf ihre Fragen finden würden. 

Wir unterbrachen das Nachdenken mit dem Dokumentarfilm "Tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen" von Cyril Dion und Mélanie Laurent von 2015. Wir liessen uns zu den Themen Energie, Landwirtschaft, Wirtschaft, Demokratie und Bildung inspirieren. 

 

das Projekt scheitert

Nach dem Wochenende stockte unser Projekt. Die Frage nach der Vision einer neuen Wirtschaftsordnung und Gesellschaft überforderte uns. Ich musste darüber nachdenken. Mein Verstand allerdings fand keine Lösung. Er hielt daran fest, dass mein Reflexionsmodell funktionieren muss. Kurz bevor ich am Dienstag der zweiten Woche das Schulzimmer betrat, folgte ich meiner Intuition und notierte mir folgende Zeilen:

  • Frage: Warum ist es so schwierig, eine Vision für die menschliche Gesellschaft zu finden? 
  • These: Wenn ich (noch) nicht weiss, wer ich bin, was ich will und was ich brauche, kann ich keine Vision für die Gesamtgesellschaft entwickeln. 

Mir wurde klar, dass in unzähligen "Türschwellen-Gesprächen", die ich mit meinen Studierenden geführt hatte, immer wieder spürbar wurde, wie sie auf der Suche sind. Auf der Suche nach ihrem eigenen, individuellen Weg. Für einen Moment hatte ich vergessen, dass sie an einem anderen Punkt stehen als ich. Es trennen uns gut 20 Jahre Lebenserfahrung. Dazu gehören Hochs und Tiefs, Verzweiflung und Glück. Ich entschied mich meine "Learnings" aus meinem bisherigen Leben mit ihnen zu teilen und ihnen dazu einige Geschichten aus meinem Leben zu erzählen:

  • (Berufs-) Wege sind nicht immer gradlinig. 
  • Das Leben hält Überraschungen bereit. 
  • Es wird Stolpersteine geben. 
  • Du wirst manchmal Angst haben. 
  • Du wirst mal überfordert und auch mal unterfordert sein.  
  • Du wirst Flow erleben, wenn alles zusammenpasst. (Der Begründer der Flow-Theorie Mihaly Csikszentmihalyi ist am 20.10.21 verstorben. Hier ein spannender Ted-Talk von ihm.)
  • Wenn du dich selbst, deine Stärken und Schwächen kennst, kannst du alle Hochs und Tiefs des Lebens bewältigen. 
  • Du darfst Fehler machen und du darfst sie dir verzeihen.
  • Es werden Menschen da sein, die dir helfen. 
  • Traue dich, um Hilfe zu bitten. 
  • Es ist nie zu spät Neues zu lernen. 
  • Du kannst dich in deinem Leben immer wieder neu erfinden, wenn du das willst. 
  • Du musst bereit sein, deine Glaubenssätze zu hinterfragen. 
  • Manchmal musst du auch loslassen können.
  • Positiv denken hilft! 
  • Wünsche ans Universum funktionieren! 
  • Jeder Weg beginnt mit einem ersten Schritt. 

Was dann geschah, war, was ich "Magie im Schulzimmer" nenne. Die Blockade war gebrochen. Einige begannen miteinander zu diskutieren, andere sprachen mit mir und ein Studierender zog sich seine Jacke und Mütze an und meinte: "Ich gehe auf die Dachterrasse nachdenken. Ich muss jetzt nachdenken."

Im Rückblick ist dieser Moment überwältigend. Ich dachte am Montagabend mein Projekt sei gescheitert. Wir kommen nicht weiter. Die Frage ist "zu gross". Sie war tatsächlich zu abstrakt. Wenn ich eine Vision für die gesamte Gesellschaft gestalten soll, ist das überfordernd. Ich kann aber wunderbar bei mir selbst beginnen: Wer bin ich? Was will ich? Was brauche ich? Wie will ich leben?

(Ich erinnere mich, dass "Wie willst du leben?" meine Ausgangsfrage gewesen war... ich hatte mich kurzfristig verirrt. Mit Vertrauen auf meine Intuition habe ich den Weg zurück gefunden. Schön, dass ich als Lernprozessbegleiterin selbst Lernende sein darf.)

 

Die Studierenden erinnern sich, dass wir die menschlichen Bedürfnisse als Ausgangspunkt für jedes wirtschaftliche Handeln definiert hatten. Wieso sollten unsere Bedürfnisse nicht auch die Ausgangslage für das gesellschaftliche Miteinander sein? Dazu gehört auch wahrzunehmen, was wir nicht wollen. 

Unsere Gespräche führen uns zu Netflix-Serien wie Black Mirror. Es geht um Utopie und Dystopie, um die Rolle von Technologie. Künstliche Intelligenz und Biotechnologie eröffnen uns ganz neue Möglichkeiten. Wie wollen wir mit diesen Möglichkeiten umgehen? Müssen wir neue Technologien nutzen? Könnten wir auch Nein sagen, wenn wir sie nicht unseren Werten entsprechend nutzen können?

 

Wie sich doch noch alles zusammenfügt

Am Mittwoch gehen wir zurück zum Anfang: Wir lesen die Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung. Im letzten Schuljahr hatten meine Studierenden über den Begriff "Freiheit" reflektiert. Wir kramen ihre Lerntagebücher hervor. Ein Text hatte mich vor über einem Jahr sehr beeindruckt:

"Grundsätzlich bedeutet Freiheit für mich keinen inneren und äusseren Zwängen folgen zu müssen. Meiner Meinung nach gibt es auch innerliche und äusserliche Freiheit. Zu den äusserlichen Freiheiten gehören für mich die Freiheiten, die in der Bundesverfassung niedergeschrieben sind, wie Meinungsfreiheit, Sprachenfreiheit, Medienfreiheit, Glaubensfreiheit oder Bewegungsfreiheit. Dies sind alles Sachen, die uns andere Menschen wegnehmen oder verbieten könnten, wenn die Bundesverfassung nicht wäre. So fühle ich mich frei, wenn ich selber entscheiden darf, was ich tun und sagen will. Ich glaube aber auch, dass es innerliche Freiheiten gibt. Für mich ist dies, wenn du seelisch von nichts gefangen bist. Ich glaube, innerlich völlig frei zu sein, ist schwierig, da wir immer von Ängsten, Sorgen oder Ungewissheiten gefangen sind. Meiner Meinung nach kann Frieden, Genügsamkeit und Sicherheit Freiheit hervorbringen."

 

Ich bereite ein Tafelbild vor: Die vier Systeme Politik, Recht, Gesellschaft und Wirtschaft (gemäss Systemanalyse) werden in jedem Staat definiert. Die Schweiz ist ein Rechtsstaat, in dem die Staatsgewalt in drei Gewalten geteilt ist. Wir sind eine halb-direkte Demokratie, in der das Volk der höchste Souverän ist. In unserer Bundesverfassung sind die Grundrechte festgelegt, die für jeden Menschen in diesem Land gelten. Wir organisieren uns freiheitlich, was sich am wichtigsten privatrechtlichen Grundsatz, der Vertragsfreiheit, und der sozialen Marktwirtschaft zeigt. 

Dieses gesellschaftliche System kann gefördert (Sonne) oder bedroht werden (Wolken). Es ist wie beim Wetter: Der Himmel ist nicht immer blau. Manchmal ziehen Wolken auf, es gibt Regen oder einen Sturm. Die Sonne kehrt aber immer wieder zurück. 

Nach meiner Einleitung in das Tafelbild lasse ich meinen Studierenden Zeit über die drei Fragen nachzudenken: 1) Was bringt die Sonne zurück? 2) Wofür stehen die Wolken? und 3) Was bildet das Fundament? 

 

Die Antwort auf die ersten beiden Fragen kommt prompt: "Der Mensch!" "Vertrauen!"

Wir haben es also in der Hand. Es hängt davon ab, wie wir mit und in den Systemen leben, wie wir mit unseren Freiheiten umgehen. 

Vertrauen. Unsere Gesellschaftsordnung funktioniert nicht ohne Vertrauen. Wenn ich nicht weiss, ob sich mein Vertragspartner an unsere Vereinbarungen hält, werde ich zögern einen Vertrag abzuschliessen. Ich muss darauf vertrauen, dass sich meine Mitmenschen fair (nach Treu und Glauben, Art.  2 ZGB) verhalten. Wir tauschen keine Güter und Dienstleistungen gegen Geld aus, wenn wir uns nicht vertrauen. Ich spare nicht, wenn ich nicht darauf vertrauen kann, dass der Wert des Geldes stabil bleibt. Ich investiere nicht, wenn ich kein Vertrauen habe, dass ich meinen Beruf weiterhin ausüben kann. Wenn ich abstimme, will ich darauf vertrauen, dass der Mehrheitswille auch korrekt umgesetzt wird. Ich will darauf vertrauen, dass die Richter/innen faire Urteile fällen. Wir müssen einander vertrauen können.

 

Wir blicken auf unsere Wertesammlung und stellen fest: Vertrauen hatten wir nicht notiert. Es wird einen Moment still. Vertrauen ist die Grundhaltung, damit alles andere möglich wird: Demokratie, Transparenz, Chancengleichheit. Ja, selbst Nachhaltigkeit setzt voraus, dass ich den Produzenten vertrauen kann, den Labels, die nachhaltige Produktion bescheinigen und den Verkäufern, dass sie nicht als "Bio" deklarieren, was nicht biologisch hergestellt wurde. 

 

Bei den eigenen Werten geht es auch darum, was man sich selbst wert ist. Anstatt zu fragen "Bist du es wert, beleidigt zu werden?", könnten wir uns fragen "Bin ich es mir wert, dich zu beleidigen?" Was hat diese Umdrehung für eine Wirkung?  

Interessant ist, was nicht in unserer Wertesammlung steht: Reichtum oder Status. Reines Streben nach Geld und Gütern bringt Wolken. Wenn mir Geld und Status wichtig sind und ich beides habe, werde ich es um jeden Preis verteidigen wollen.
Die junge Generation beginnt das "Besitzdenken" zu hinterfragen. Zugang zu haben wird wichtiger als Besitz. Mit diesem neuen Denken können wir die Basis für eine gelingende Sharing Economy legen. Eine Wirtschaft des Teilens braucht vielleicht noch mehr Vertrauen als eine Wirtschaft des Kaufens. 

Unsere Werte bilden das Fundament für unser Handeln. Gibt es denn einen Wertekonsens? Ich schlage die Goldene Regel der Ethik und Kant's Kategorischen Imperativ vor. Ich lasse meinen Vorschlag bei den Studierenden wirken. In weiteren Gesprächen zeigt sich, dass genau in dieser Frage die Herausforderung liegt. "Wenn ich Erwachsene danach frage, was ihnen wichtig ist, nach welchen Werten sie leben oder welche Vision sie für ihr Leben haben, erhalte ich keine Antwort oder es heisst "Was willst du schon wieder?"" Diese Aussage eines Studierenden und das teilweise Nicken der Mitlernenden macht mich nachdenklich. 

 

Wir sinnierten weiter: Was ist die Stärke Europas? (Meine Studierenden interessieren sich sehr für Geschichte und sind durch ihre Zeit an der Berufsmaturitätsschule, Fachrichtung Architektur, Technik und Life Sciences, bestens für diese Frage gerüstet. Alle sind ausgebildete Berufsmenschen (bereits absolviertes EFZ) mit einem breiten Interessenhorizont) Nach kurzem Nachdenken: "Innovation!" "Grosse Erfindungen!" 

Wir machen eine Zeitreise zu den alten Griechen, ins Römische Reich, in die Renaissance und die Aufklärung. Europa stand und steht für herausragende Denker und Erfinder. Wir müssen den Erfinder- und Forschergeist wachhalten und wenn nötig wachrütteln. Und wir sollten über Philosophie und Ethik nachdenken, denn: Wir müssen über Werte reden.

 

Fazit

Unser Fazit lautet: So neu müssen wir die Systeme gar nicht denken. Es ist alles da, was wir brauchen: Rechtsstaat, Demokratie, eine grund-sätzlich funktionierende (soziale) Marktwirtschaft mit Vertragsfreiheit. Entscheidend aber ist, wie wir mit unseren Freiheiten umgehen, wie wir unsere Welt mitgestalten. Vertrauen zu haben beginnt bei jedem Einzelnen von uns. Vertrauen ist die Basis für gelingende Kooperation. Wenn wir miteinander vertrauensvoll kooperieren, werden wir die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft meistern. 

 

Zum Abschluss unserer gemeinsamen Lernreise machen wir einen Spaziergang zum Richard Wagner-Museum in Luzern. Dort, wo Richard Wagner mit seiner zweiten Frau Cosima (Tochter von Franz Liszt) von 1866 bis 1872 lebte, komponierte und mit Friedrich Nietzsche philosophierte. Ein historischer Ort.

Währenddessen planen wir unseren nächsten Schritt, denn jeder Weg beginnt mit dem einen ersten Schritt: Wir planen einen Philosophie-Zirkel, um gemeinsam über die grossen Fragen der Zeitgeschichte nachzudenken. Ich freue mich schon sehr darauf. 

PS: Danke an meine Studierenden! Ich habe so viel von euch gelernt. Es war mir eine Ehre und eine grosse Freude.

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Kommentare: 1
  • #1

    Gisela (Freitag, 29 Oktober 2021 10:19)

    Was für ein tolles Projekt - ich bin begeistert von dir, deinen Lernenden und eurem Projekt!