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Was bewegt dich?

Die Frage ist zweideutig: Einerseits geht es um unsere Gefühle. Was bewegt mich? Was löst etwas in mir aus? Andererseits geht es um die Frage, was uns morgens motiviert aufzustehen, trotz aller schlechter Neuigkeiten nicht einfach im Bett zu bleiben und die Decke über einen zu ziehen? Welt, lass mich in Ruhe. Warum machen wir weiter?

In einer Runde von zehn praktischen Philosophinnen und Philosophen spürten wir diesen Fragen einen Abend lang nach. 

 

Über Krieg wollen wir nicht sprechen. Krieg ist komplex, schwer fassbar, eigentlich unvorstellbar, wenn man selbst nicht mitten drin ist. Aber wir sprechen über Konflikte, Trennungen und Kritik. Kritik sei eine Aufforderung uns zu verändern, meint T. Auf Kritik reagieren wir automatisch mit einer Abwehrhaltung. Es braucht Selbstreflexion, um die innere Abwehr zu überwinden, Kritik anzunehmen und für sich herauszufinden, was man positiv verändern könne. Wenn jemand etwas sage, das man nicht hören wolle, werden Trigger geweckt, meint O. und stimmt zu, dass Selbstreflexion der Schlüssel ist. Nur, wenn wir uns unseren Triggern bewusst werden, können wir unser Verhalten verändern. Klingt eigentlich einfach, ist es aber nicht. 

 

Wie du in den Wald rufst, ruft es zurück.

Sind Konflikte immer lösbar? Müssen sie immer gelöst werden? Was bedeutet "lösen" überhaupt? Einen Konflikt zu lösen, heisst ihn zuerst einmal zu akzeptieren. "Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind." A. fügt hinzu: "De Esel bliibt stoh, de Gschiider ged noh." Sie orientiere sich gerne an diesem Sprichwort. Sie habe schon häufig festgestellt, dass wenn sich eine Türe schliesse, sich dafür eine andere öffne. Manchmal hilft es also auch, sich aus einem Konflikt rauszunehmen. Wie kann man aber positiv aus einem Konflikt rausgehen? Könnte Vergebung der Schlüssel sein? Akzeptanz? Die Situation annehmen, ohne sie zu bewerten? Mir scheint das eine sehr sinnvolle Idee. 

D. fügt an, dass es wichtig sei, sich selbst wahrzunehmen und zu spüren. Sie sieht hierbei einen Widerspruch mit der Emotionskontrolle, die wir bereits den Kindern in der Primarschule antrainieren. Wir sollten Gefühle zulassen. Durch zu starke Kontrolle verlieren wir die Verbindung zu uns selbst. Was aber tun, wenn andere Menschen nicht mit unseren Gefühlsausbrüchen umgehen können? Vor allem bei negativ konnotierten Gefühlen wie Wut, Traurigkeit oder Überforderung wissen viele nicht, wie reagieren. T. bringt ein, dass wir den Umgang mit Gefühlen mit positiven Emotionen trainieren könnten. "Schenken wir den Menschen ein Lächeln und sehen, was passiert." Er habe das bereits häufig ausprobiert und staune immer wieder, was ein Lächeln auslösen könne. "Wie wir in den Wald rufen, so ruft es zurück." Sprichworte enthalten viel Weisheit. 

 

Positive Signale sollten aber auch ehrlich sein. Die Gesellschaft verlange eine lebensfrohe Maske. Wir verstecken unsere echten Gefühle, um gut anzukommen, meint Dk. T. ergänzt: Wir erwarten Menschlichkeit, sind es aber selbst nicht. Gefühle zu zeigen, ist menschlich. Wir sprechen über verschiedene gesellschaftliche Glaubenssätze wie "Männer weinen nicht" und landen bei "toxischer Maskulinität" (P.). Am Ende sind wir uns einig: Die Grundvoraussetzung andere Menschen zu lieben ist, sich selbst zu lieben. Nur wer sich selbst respektiert, kann auch andere Menschen respektieren. Respektloses, chauvinistisches Verhalten anderen gegenüber ist immer ein Spiegel: Das Verhalten sagt mehr über den Sprechenden aus als über den Angesprochenen. 

 

Vergewaltigung und Fake News

D. bringt die Schlagzeilen (z.B. HIER) zu einem Vergewaltigungsfall in Basel-Stadt in die Diskussion ein. Das Bundesgericht habe eine Vergewaltigung einer Frau aufgrund der Dauer von "nur" 11 Minuten strafmildernd beurteilt. Ich kann das nicht glauben und recherchiere nach. Der Vergewaltigungsfall "Elsässerstrasse" hatte vor zwei Jahren grosse Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Opfer, eine damals 33-jährige Frau, hatte sich nach einem Barbesuch von zwei Männern (33- und 17-jährig) nach Hause begleiten lassen. Die beiden hofften von der Frau mit in die Wohnung genommen zu werden. Als sie das ablehnte, fielen sie im Hauseingang über sie her. 

 

Die beiden Täter wurden in zwei separaten Verfahren beurteilt. Der minderjährige Täter wurde im Jugendstrafverfahren zuerst freigesprochen. Das Basler Strafgericht verurteilte den erwachsenen Täter wegen Vergewaltigung (Art. 190 StGB) und sexueller Nötigung (Art. 189 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von viereinviertel Jahren und sprach acht Jahre Landesverweisung aus. Der Verurteilte 33-jährige erhob Berufung beim Appellationsgericht Kanton Basel-Stadt und hatte Erfolg: Die Strafe wurde auf drei Jahre herabgesetzt, davon 18 Monate bedingt. Die Landesverweisung reduzierte es auf sechs Jahre und die Genugtuungssumme von Fr. 10'000.- auf Fr. 9'000.-. 

 

Gemäss NZZ (Artikel vom 23.11.23) war es weniger das Urteil an sich, das für Empörung sorgte und Dutzende Demonstrantinnen vor das Appellationsgericht trieb, als verunglückte Aussagen der vorsitzenden Richterin, die dem Opfer eine Art Mitschuld anzulasten schien. In der schriftlichen Begründung des Urteils hiess es dann, dass die Vergewaltigung nicht sonderlich gewalttätig gewesen sei, zudem habe der Übergriff im Windfang des Hauseinganges nur ungefähr sechs bis sieben Minuten gedauert. Mir ist schleierhaft, wie die Demonstrantinnen auf die 11 Minuten Vergewaltigungsdauer gekommen sind. Gewisse Medien nehmen diese 11 Minuten unüberprüft auf. In allen Urteilen ist immer die Rede von 6 bis 7 Minuten.

 

Das Bundesgericht setzt sich mit dem Urteil aufgrund einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft auseinander. Es beurteilt tatsächlich die Berücksichtigung der Dauer einer Vergewaltigung als bundesrechtskonform. Was aber nirgends in den Medien steht: Die Berücksichtigung der Dauer steht in Zusammenhang mit Art. 200 StGB, dieser besagt: "Wird eine strafbare Handlung dieses Titels gemeinsam von mehreren Personen ausgeführt, so kann das Gericht die Strafe erhöhen, darf jedoch das höchste Mass der angedrohten Strafe nicht um mehr als die Hälfte überschreiten. Dabei ist es an das gesetzliche Höchstmass der Strafart gebunden." 

Die Beurteilung der gemeinsamen Täterschaft ist anspruchsvoll. Das Appellationsgericht hatte argumentiert, dass der 33-jährige Täter weniger "Schuld" an der Tat des 17-jährigen trägt und hat u.a. deshalb das Strafmass gesenkt. Das sieht das Bundesgericht anders: "Wie die Beschwerdeführerin 1 (Staatsanwaltschaft) treffend vorbringt, haben sich die beiden Täter am Opfer "bedient" und gegenseitig davon profitiert, dass sie in der Überzahl waren und das Opfer sich durch die Handlung des einen weniger bis gar nicht gegen die Handlung des anderen wehren konnte. Während die Privatklägerin in einem ersten Schritt von hinten vaginal vergewaltigt wurde, erzwang der Beschwerdeführer 2 (33-jähriger Täter) gleichzeitig gewaltsam den Oralverkehr. Dann kam es zu einem Wechsel: Nun versuchte der Beschwerdeführer 2 die Privatklägerin vaginal zu vergewaltigen, während der Mitbeschuldigte den Vorteil ausnutzte, dass sie sich in jenem Moment am Boden liegend nicht (noch) mehr wehren oder gar flüchten konnte, sodass er ihr in das Gesicht ejakulieren konnte. Aus diesen Umständen erhellt, dass sämtliche Handlungen der beiden durch die Handlung des jeweils anderen erheblich einfacher auszuführen waren."

 

Das Appellationsgericht hatte argumentiert, dass "gemessen an allen denkbaren Konstellationen einer Gruppen- oder Kettenvergewaltigung" es sich vorliegend um einen vergleichsweise leichteren Fall handle. Weder sei exzessive Gewalt auf die Privatklägerin ausgeübt worden, noch habe der Vorfall lange gedauert. Der gesamte Übergriff im Windfang habe ungefähr sechs bis maximal sieben Minuten gedauert. "Der Vergewaltigungsvorgang durch den Mitbeschuldigten (17-jähriger Täter) sei somit vergleichsweise von relativ kurzer Dauer gewesen, zumal innerhalb dieser sechs bis sieben Minuten noch der Vergewaltigungsversuch des Beschwerdeführers 2 (33-jähriger Täter) gefolgt sei."

 

Ich halte hier also ausdrücklich fest: Weder das Bundesgericht noch ein Gericht der unteren Instanzen hat geurteilt, dass eine mehrere Minuten andauernde Vergewaltigung kurz und damit strafmildernd zu beurteilen sei. Die Dauer wurde einzig argumentativ im Vergleich zu anderen Gruppenvergewaltigungen berücksichtigt, um die Straferhöhung (!) aufgrund von Art. 200 StGB zu begründen. Es ging letztlich darum, wer der beiden Täter wie viel Anteil an der Tat hatte. Das ist vor allem wichtig, weil auch für den damals minderjährigen Täter eine Berufung hängig ist. Das Appellationsgericht wartete das Bundesgerichtsurteil für den Mittäter ab. Ich rechne damit, dass der Freispruch für den 17-jährigen Täter aufgehoben wird.

 

Hier geht's zum Urteil des Appellationsgerichts und zum Bundesgerichtsurteil inkl. Markierungen und Kommentare durch mich für einfachere Lesbarkeit: 

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Bundesgerichtsurteil_Vergewaltigung_19.0
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Auch wenn wir den Vergewaltigungsfall während des Philo-Zirkel-Abends nicht klären konnten, stellten wir fest, dass wir es in der Hand haben, die Regeln für Sexualstraftaten zu ändern. In unserer halb-direkten Demokratie können wir eine Volksinitiative lancieren und bereits mit 100'000 Unterschriften eine Änderung der Bundesverfassung bewirken. 

 

Tatsächlich wurde das Sexualstrafrecht gerade vom Parlament geändert. Die Referendumsfrist ist im Oktober 2023 abgelaufen. HIER geht's zum neuen Sexualstrafrecht. Informationen dazu gibt es auch im SRF-Erklärvideo. Die Straftatbestände wurden verschärft und die Vergewaltigung neu definiert (sie gilt nicht mehr nur für weibliche Opfer). 

 

Was macht uns nun Hoffnung? Was bewegt uns, weiterzumachen? Wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Wir halten einstimmig fest: Es lohnt sich für unsere Demokratie und die Meinungsfreiheit zu kämpfen. D. und P. waren kürzlich an einem Konzert einer Band, in der ein Israeli und ein Palästinenser gemeinsam musizieren. Beide erzählten am Konzert ihre Geschichte und staunten darüber, dass es in der Schweiz möglich war, dies zu tun, ohne bedroht oder attackiert zu werden. Dabei sei ihm wieder bewusst geworden, wie grundlegend wichtig die "Freedom of speech" sei, meint P. 

M. bringt ein, dass wir in den besten aller bisherigen Zeiten leben, wie Steven Pinker (Psychologie-Professor der Harvard University) in der Sternstunde Philosophie (schau rein ab Minute 16:46!) 2018 darlegte. Auch Andrew McAfee stützt seine Argumente in seinem Buch "Mehr aus weniger - Die überraschende Geschichte, wie wir mit weniger Ressourcen zu mehr Wachstum und Wohlstand gekommen sind und wie wir jetzt unseren Planeten retten" auf die Statistiken, die die Fortschritte der Menschheit aufzeigen. 

 

Warum sehen wir die positiven Fortschritte nicht? T.: "We are so connected but disconnected." Wir wissen zwar so viel voneinander oder meinen viel zu wissen, aber eigentlich werden wir durch die (Sozialen) Medien voneinander getrennt. O.: "Du merkst, wie mächtig du sein kannst, wenn du beginnst, kritisch zu denken." Wir müssen uns also Primärquellen zuwenden, die Informationen direkt von den Betroffenen oder Zuständigen beziehen (wie oben aufgezeigt, z.B. direkt Bundesgerichtsurteile lesen). Medien arbeiten mit unserer Aufmerksamkeit. Studien zeigen, dass unser Gehirn negative Neuigkeiten 5x stärker gewichtet als positive. Unsere Aufmerksamkeit wird also durch negative News stärker absorbiert. Das hat wahrscheinlich mit unserem Überlebensinstinkt zu tun. Wir müssen also trainieren, uns auf positive Neuigkeiten zu konzentrieren. Dk. empfiehlt sich die Frage zu stellen, ob man lieber in einer anderen Epoche leben würde. Wir lachen: Ins Mittelalter will definitiv niemand zurück! 

 

Dankbarkeit als Weg zu einer optimistischen Lebenseinstellung

Jeder und jede von uns hat es selber in der Hand. Wie Steven Pinker aufgezeigt hat: Beurteile das Glas nicht als halbvoll oder halbleer, sondern prüfe, wie viel tatsächlich drin ist. Stütze dich auf aktuelle Daten und mache dir ein realistisches Bild der Welt. Lass dich nicht von Schlagzeilen leiten, die deine Aufmerksamkeit auf negative Neuigkeiten lenken, sondern konzentriere dich auf die positiven Entwicklungen in der Welt. Sei dankbar, dass du in einem sicheren, demokratischen Land leben kannst und engagiere dich für mehr "Sowohl als auch" anstatt für "Entweder oder". Lebe im Hier und Jetzt und fokussiere dich auf das Gute. Schenke jeden Tag ein Lächeln.

 

Wir alle verlassen nach diesem unfassbar spannenden Abend gestärkt und voller Hoffnung das Schulhaus. Es fühlte sich heute irgendwie nach Selbsthilfegruppe an. 

 

Danke allen praktischen Philosophinnen und Philosophen für eure Gedanken und eure Teilnahme! Bis zum nächsten Mal im Januar 2024!

 

26.11.23 Miriam Huwiler


Buchtipps:

  • Rutger Bregman: "Im Grunde gut - Eine neue Geschichte der Menschheit". Rowohlt, 2020.
  • Steven Pinker: «Aufklärung jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung». S. Fischer Verlag, 2018.
  • Andrew McAfee: "Mehr aus weniger - Die überraschende Geschichte, wie wir mit weniger Ressourcen zu mehr Wachstum und Wohlstand gekommen sind und wie wir jetzt unseren Planeten retten". DVA, deutsche Erstausgabe 2020.
  • Franziska Schutzbach: "Die Erschöpfung der Frauen", Droemer, 2021. 
  • Rolf Dobelli: "Die Kunst des digitalen Denkens - Wie Sie auf News verzichten und die Informationsflut meistern". Piper, 2019.

 

Filmtipp: Morin (2023). "Ein Near-Future-Film über unser Bildungs- und Wertesystem und die Frage, was uns unsere Kinder wert sind."

 

Musiktipp: "Ehrlich" von Baschi

"Oh, wil niemerts weiss, öb er morn wider ufstoht

Säg i eu ehrlich, wie’s isch

Egal, was and’ri meined, egal, was jede redt

‘S git nie es Läbe, ussert jetzt

Egal, was and’ri dänked, egal, wo du grad stecksch

Wenn du wotsch läbe, denn mach das jetzt"


Der Philo-Zirkel ist ein interdisziplinäres Angebot der BM-Abteilung am BBZB Luzern. Er wird organisiert und verantwortet von der Fachschaft W&R unter der Leitung von Miriam Huwiler. Eingeladen sind aktuelle und ehemalige Lernende und Lehrpersonen. Gerne dürfen Freunde mitgebracht werden. Der Philo-Zirkel findet seit September 2022 statt und unsere Gruppe ist unterdessen auf gut 20 Personen gewachsen.

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